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Perspektiven

1881–1900: Kindheit, Jugend und Zerwürfnis mit der Familie(1)–(5)1901–1910: Reise nach München und Wanderschaft(6)–(10)1911–1928: Ehe mit Olga Boralewski(11)–(13)1916–1918: Einzug als „Soldat“ in den Krieg und Partei(14)–(17)1928–1933: Institut für Sexualwissenschaft(18)–(35)1933–1945: Flucht in die Tschechoslowakei(36)–(46)1945–1961: Leben als Malerin in der DDR(47)–(63)

Diese Seite versucht, das facettenreiche Leben Toni Ebels in 63 Abschnitten in den Blick zu nehmen. Eine chronologische Rekonstruktion ihres Lebenswegs aus heutiger Sicht wird mit zeitgenössischen Quellen, Bildern und Toni Ebels eigener Lebensbeschreibung kombiniert, um der Vielstimmigkeit ihrer Biografie Raum zu geben. Der farbige Index soll eine Orientierungshilfe beim Lesen der Stationen und Lebenszeugnisse sein, die wir auf unterschiedlichen Ebenen – teils neben-, teils untereinander, teils zusammenhängend, teils lose und unterbrochen – zusammengestellt haben. Damit versuchen wir, der (noch) bruchstückhaften Quellenlage Rechnung zu tragen.


In den Texten tauchen Begrifflichkeiten auf, die verletzend oder irritierend wirken können. Wir haben mitunter den historischen Sprachgebrauch beibehalten, wie er zu Lebzeiten Toni Ebels üblich war – nicht um die darin enthaltene Diskriminierung fortzuführen, sondern um sie sichtbar zu machen.

(1)

Toni Ebel spricht auf dem vierten Kongress des Verbandes Bildender Künstler Deutschlands, 1.–5.12.1959 in (Leipzig-) Markkleeberg, 1959.
Fotograf*in unbekannt
In Privatbesitz
Marianne Schnitzlein, Frankfurt/Oder

„1881 bin ich zu Berlin geboren, nach Vollendung meiner Schulzeit besuchte ich die Kunstschule in Berlin, Klosterstr[.]; wurde nach einigen Semestern wegen meiner sozialistischen Ideen gemaßregelt und nicht wieder aufgenommen[;] ich war damals 19 Jahre alt. Infolge des Zerwürfnis[ses] im Elternhause verließ ich Berlin und ging nach München[,] studierte in München, nahm an den Abendkursen an der Akademie teil und verdiente des Tages mein[en] Lebensunterhalt mit Bildermalen für Kunsthändler.“

Ebel, Toni: Eigene Lebensbeschreibung aus: Akte des Landesarchivs Berlin (C Rep. 118-01, Nr. A 14093).

1881–1900

Kindheit, Jugend und Zerwürfnis mit der Familie

(2)

Text: Raimund Wolfert

Toni Ebel wird am 10. November 1881 als erstes von elf Kindern eines Kaufmanns und dessen Ehefrau in Berlin geboren. Die Familie ist evangelisch. Da die Eltern davon ausgehen, dass ihr Erstgeborenes ein Junge sei, geben sie ihm den Namen Arno. Toni Ebel fällt aber schon früh durch ein „mädchenhaftes Wesen“ und ihre Begeisterung für hauswirtschaftliche Tätigkeiten auf. Im Alter von neunzehn Jahren ist ihr endgültig klar, dass sie „anders” als ihre männlichen Kameraden ist. Von dem ersten Geld, das sie verdient, kauft sie sich eine strohblonde Lockenperücke und Frauenkleider. Als die Eltern die Perücke und die Kleider entdecken, werfen sie sie ins Feuer.

(3)

Toni Ebel (vierte von rechts) im Kreise von Familienangehörigen und Freunden, 1959.
Fotograf*in unbekannt
In Privatbesitz
Marianne Schnitzlein, Frankfurt/Oder

„Wenn er männliche Kleidung tragen muss und männlich geartete Arbeit verrichtet, ist er unglücklich, nervös und seelisch deprimiert.“

Gutachten Magnus Hirschfeld und Felix Abraham vom 23. Dezember 1928 zur Namensänderung Toni Ebels, aus: Akte des Landesarchivs Berlin (A Rep. 341-04, Nr. unverz.).

(4)

„A r n o  E b e l, geboren den 10. November 1881 zu Berlin, Kunstmaler, hat uns zum Gutachten aufgefordert. Das Gutachten soll zur Unterstützung seines Gesuches um Namensänderung dienen.
Ebel wurde als erstes Kind von 22 Geschwistern geboren. Er genoss eine strenge Erziehung, war ein mittelmässiger Schüler und zeigte schon frühzeitig einen ausgesprochenen Hang zur Malerei. […] Über seine Veranlagung gibt Ebel an: Schon als 9[-]jähriges Kind sei er mütterlich um seine Geschwister besorgt gewesen, hätte ihnen die Milch zurecht gemacht, Windeln gewaschen und anderes mehr. Gespielt habe er nur mit Puppen. In der Schule sei er schlecht mitgekommen, weil er nur Interesse für weibliche Arbeiten gehabt habe. […] Von jeher fühlte er sich nur in Frauenkleidern wohl und bei weiblicher Beschäftigung. Wenn er männliche Kleidung tragen muss und männlich geartete Arbeit verrichtet, ist er unglücklich, nervös und seelisch deprimiert.“

„(…) man versuchte, einfach mich mit Gewalt zu einem ‚Mann‘ zu erziehen.‘“

Rahn, L.: Gespräch mit einer Frau, die einmal ein Mann war, aus: 12 Uhr Blatt vom 2.8.1932 (ohne Paginierung).

(5)

„Wally E., ehemals Leo, empfängt in einer gemütlichen Einzimmerwohnung. […] ‚Mit neunzehn Jahren ungefähr,‘ so erzählt sie, ‚als die anderen Jungen anfingen, Abenteuer zu haben, begriff ich, daß ich anders war als meine Freunde. Mein sehnlichster Wunsch in dieser Zeit war – eine Perücke. Ich kaufte mir damals von meinem ersten ersparten Geld eine strohgelbe Lockenperücke. Meine Eltern entdeckten sie und warfen sie ins Feuer. Ebenso erging es den ersten Frauenkleidern, die ich mir heimlich kaufte. Von dieser Zeit an wurde ich meines Lebens nicht mehr froh. Man ließ mich kaum eine Stunde allein in meinem Zimmer, meine Eltern zwangen mich, schwere Arbeiten zu tun, denen ich nicht gewachsen war, man schickte mich aufs Land, man versuchte, einfach mich mit Gewalt zu einem „Mann“ zu erziehen.‘“

1901–1910

Reise nach München und Wanderschaft

(6)

Nach dem Abschluss der Volks- und Realschule absolviert Toni Ebel zunächst eine Lehre zum „Kaufmann“, später zum „Dekorateur“. Doch auch die zweite Ausbildung bricht sie ab. Als Toni Ebel sich um 1901 in einen Mann verliebt, kommt es zu Streitigkeiten zwischen ihr und ihren Brüdern und ihrem Vater. Sie verlässt daraufhin das Elternhaus und begibt sich auf „Wanderschaft“. Die folgenden Jahre zieht sie durch weite Teile Deutschlands, Österreichs und Italiens. In München besucht sie zeitweilig eine Kunstschule. Vermutlich handelt es sich um eine private Schule. In den Matrikelbüchern der Münchner Akademie der Bildenden Künste (AdBK) lässt sich Toni bzw. Arno Ebel nicht nachweisen.

„1901 lebte ich in Rom […] und fing an[,] mein[e] Arbeiten in Ausstellungen auszustellen[,] verkehrte nun in italienischen Kreisen und kam viel mit sozialistisch gesinnten Italienern zusammen[;] da mir Italien gefiel[,] weil es sehr malerisch war[,] bereiste ich ganz Italien[;] in Venedig lernte ich meinen Freund kennen und bereiste mit ihm sozusagen die halbe Welt[;] ich war in Paris[,] ging wieder zur Akademie[,] mein Freund bezahlte für das Schulgeld, er verkaufte meine Arbeiten und ich konnte schaffen und lebte sorgenfrei. Wir waren viel auf der Reise, ich war in Spanien, Afrika, Amerika, Holland, England, usw. […]
1903 starb mein Freund in Venedig und ich reiste nun allein in [der] Welt umher.“

Ebel, Toni: Eigene Lebensbeschreibung aus: Akte des Landesarchivs Berlin (C Rep. 118-01, Nr. A 14093).

(7)

In Venedig lernt Toni Ebel Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts einen reichen älteren Herrn kennen, der für einige Zeit ihr Gönner und Financier, möglicherweise auch ihr Liebhaber, wird. Über ihn teilt Toni Ebel später nur mit, dass er Amerikaner gewesen sei. Die beiden bereisen mehrere Länder Südeuropas und Nordafrikas zusammen, sie fahren aber auch nach Frankreich, in die Niederlande und in die USA. Nach dem Tod ihres Freundes 1903 reist Toni Ebel allein weiter, und erst 1908 kehrt sie nach Deutschland zurück. Unbekannt ist, ob es um diese Zeit zu einer „Versöhnung“ Toni Ebels mit ihren Brüdern und ihrem Vater kommt. Toni Ebel wohnt zunächst in München und um 1910 in Dresden, bevor sie wieder nach Berlin zieht.

(8)

Blick auf Rom, 1895.
Foto: Karl Blossfeldt
Karl Blossfeldt (1990): Fotografien zwischen Natur und Kunst. Hg. von Andreas Hüneke und Gerhard Ihrke. Leipzig: Fotokinoverlag, Abb. S. 15
Deutsche Fotothek/Karl Blossfeldt
Kanalbrücke in Venedig, 1895.
Foto: Karl Blossfeldt
Karl Blossfeldt (1990): Fotografien zwischen Natur und Kunst. Hg. von Andreas Hüneke und Gerhard Ihrke. Leipzig: Fotokinoverlag, Abb. S. 11
Deutsche Fotothek/Karl Blossfeldt

„(Er) machte nun mit dem (…) (Herrn) größere Reisen und (…) war in seiner Rolle als Frau ein glückliches Menschenkind geworden (…).“

Brief von Walther Niemann zur Namensänderung Toni Ebels vom 18. März 1929, aus: Akte des Landesarchivs Berlin (A Rep. 341-04, Nr. unverz.).

(9)

„Im 20. Lebensjahr verliess er [Toni Ebel, EPA] das Elternhaus, da eine Zwistigkeit zwischen seinen Brüdern und Uneinigkeit mit dem Vater eingetreten war, da […] [er] Zuneigung zum Manne hatte. Er wanderte durch Deutschland und Österreich nach Italien.[…] Eines Tages […] ging ein graumelierter Herr mit Spitzbart vorbei und [gab] ihm mit den Worten ‚nehmen sie das‘ ein Geldstück in die Hand. […] Nach und [n]ach entspann [sich] zwischen den beiden ein Freundschaftsverhältnis […] und der Hauptwunsch des Antragsstellers ging in Erfüllung, eine Frau zu sein und geliebt zu sein. Allmählich vertauschte […] [er] seine Männerkleidung mit Frauenkleidung, bis er vollständig dem Manne als Frau gegenüber stand. Der […] alte Herr fand Gefallen an […] [ihm] und unterstütze ihn weiter. […] [Er] machte nun mit dem […] [Herrn] größere Reisen und […] war in seiner Rolle als Frau ein glückliches Menschenkind geworden […].“

„In Palermo wurde er wegen Tragens weiblicher Kleidung 11 Wochen in Haft gesetzt.“

Gutachten Magnus Hirschfeld und Felix Abraham vom 23. Dezember 1928 zur Namensänderung Toni Ebels, aus: Akte des Landesarchivs Berlin (A Rep. 341-04, Nr. unverz.).

(10)

„1901 ging er nach Italien auf Wanderschaft. Auf dieser Reise diente er kurze Zeit bei einer Dame in Regensburg als Zofe in Frauenkleidern. Dann reiste er durch Protection 2 1/2 Jahre mit einem Herrn, vollkommen als Frau lebend. Er bezeichnet dies als die glücklichste Zeit seines Lebens. In Palermo wurde er wegen Tragens weiblicher Kleidung 11 Wochen in Haft gesetzt.“

1911–1928

Ehe mit Olga Boralewski

(11)

Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland versucht Toni Ebel offenbar, sich den gesellschaftlichen Anforderungen, die an sie gestellt werden, anzupassen und sich in einer männlichen Rolle einzurichten. Im Sommer 1911 heiratet sie in Berlin Olga Boralewski (1873–1928), die aus einer früheren Beziehung einen Sohn hat. Die Ehe ist jedoch sehr unglücklich. Toni Ebel unternimmt im Lauf der Jahre mehrere Selbstmordversuche und wird zeitweise in eine Heilanstalt eingewiesen. Olga Ebel holt „ihren Mann“ aber stets zu sich zurück. Zu Hause schlägt sie „ihn“, wohl auch weil „er“ empfindsamer und „femininer“ als sie selbst ist.

„Als Mann ist der Antragssteller unbrauchbar, willenlos und leidet unter seelischen Depressionen.“

Brief von Walther Niemann zur Namensänderung Toni Ebels vom 18. März 1929, aus: Akte des Landesarchivs Berlin (A Rep. 341-04, Nr. unverz.).

(12)

„1908 oder 1909 war der Antragssteller in Berlin und lernte dort eine Frau kennen, Olga Boralefski [sic], die sehr herrisch war und es verstand, ihn zur Eingehung der Ehe zu bewegen. […] Die Ehe wurde dem Antragssteller zur Hölle. Seine Frau hatte ihn völlig in [der] Gewalt, er musste tun, was sie wollte, es kam oft zu Auseinandersetzungen, seine Frau warf ihm vor, er sei kein Mann, andere Männer ernährten ihre Frauen besser als er usw. Der Antragssteller bekam auch von seiner Frau Schläge. Da er dieses Leben nicht aushalten konnte, versuchte er 1912 zum 4. Male[,] durch Freitod seinem Leben ein Ende zu bereiten. […] Als Mann ist der Antragssteller unbrauchbar, willenlos und leidet unter seelischen Depressionen. Das Gefühl, eine Frau zu sein, ist stark ausgeprägt. Er fühlt wie eine Frau, handelt, macht alle Frauenarbeiten.“

„Mit dreißig habe ich dann, um endlich Ruhe vor den Behörden zu haben, geheiratet.“

Rahn, L.: Gespräch mit einer Frau, die einmal ein Mann war, aus: 12 Uhr Blatt vom 2.8.1932 (ohne Paginierung).

(13)

„‚Mit dreißig habe ich dann, um endlich Ruhe vor den Behörden zu haben, geheiratet. Es gibt Pessimisten, die behaupten, daß jede Ehe ein Training für das Fegefeuer sei, diese Ehe aber war die Hölle selbst. Ich lief viermal davon, aber die Frau holte mich immer wieder zurück. Nicht aus Liebe, aber aus dem Pflichtgefühl eines Wärters, der einen entlaufenen Zuchthäusler zurückholt. Außerdem hing sie an meinem Geld, das sie mir an jedem Monatsende bis auf den letzten Pfennig abnahm. Die Frauenkleider, die ich noch besaß, verbrannte sie. Ich wurde allerdings trotzdem nicht der wirkliche Mann, den sie sich gewünscht hatte. Und sie rächte sich schwer dafür. Sie schlug mich bei jeder Gelegenheit, und ich war so schwach, daß es mir unmöglich war, mich gegen sie zur Wehr zu setzen.‘“

1916–1918

Einzug als „Soldat“ in den Krieg und Partei

(14)

1916 wird Toni Ebel zum Kriegsdienst eingezogen. Als Gefreiter Arno Ebel macht sie im Ersten Weltkrieg Stellungskämpfe in der Champagne (Frankreich) mit, wird verschüttet und erleidet schließlich einen Nervenzusammenbruch. Sie wird daraufhin einem Reservelazarett zugewiesen, schließlich aber ganz aus dem Kriegsdienst entlassen. 1919 wird sie als „Schwerbeschädigter“ anerkannt, und seitdem bezieht sie eine 30-prozentige Rente. Nach dem Ersten Weltkrieg nimmt sie auch eine Stellung als „Zeichner“ in einer Berliner Elektrizitätsfirma an. Toni Ebel und ihre Frau Olga wohnen Anfang der 1920er Jahre in Berlin-Steglitz, Fichtestraße 62.

(15)

Toni Ebel wird nach der Ausrufung der Republik in Deutschland politisch aktiv. Sie tritt 1920 in die SPD ein, zeichnet Werbeplakate, beteiligt sich an öffentlichen politischen Gesprächen und Wahlkampfveranstaltungen und hält Reden. Im Zuge der Wirtschaftskrise, in der sich Deutschland befindet, radikalisiert sie sich und tritt 1925 in die USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) ein. Hier kommt sie unter anderem in Kontakt mit den Grafiker*innen Käthe Kollwitz (1867–1945) und Heinrich Zille (1858–1929). Politisch fühlt sie sich insbesondere mit der Friedensaktivistin und Frauenrechtlerin Clara Zetkin (1857–1933) verbunden, die als Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) auch Reichstagsabgeordnete ist. Bei der Reichstagswahl im März 1933 wählt Toni Ebel die KPD.

„1920 trat ich in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ein[,] wurde nun Sozialistin des linken Flügels […]. 1925 bin ich zu USPD [Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, EPA] übergetreten, da […] [sich] die Spaltung der Arbeiterschaft innerhalb der SPD mit meiner radikalen Gesinnung nicht vereinbar[en ließ]. Auch beschäftigte ich mich in meiner frei[e]n Zeit wieder mit meinem gelernten Beruf der Kunst[,] stellte in der juryfreien Kunstschau in Berlin […] aus[,] lernte viele Kollegen kennen[,] kam mit Käthe Kollwitz zusammen, Zille usw. Politisch mit Clara Zetkin, Ledebour […].
1929 erlitt ich einen schweren Nervenzusammenbruch[,] wurde völlig arbeitsunfähig, wurde aus dem Betrieb entlassen und auf Ruhe gehalten gesetzt[,] ich bekam von der Angestelltenversicherung ein Ruhegehalt von 60 RM monatl.“

Ebel, Toni: Eigene Lebensbeschreibung aus: Akte des Landesarchivs Berlin (C Rep. 118-01, Nr. A 14093).

„(…) weil seine weiblichen Manieren trotz aller Unterdrückungsversuche immer wieder zum Vorschein kamen.“

Brief von Walther Niemann zur Namensänderung Toni Ebels vom 18. März 1929, aus: Akte des Landesarchivs Berlin (A Rep. 341-04, Nr. unverz.).

(16)

„1916 wurde der Antragssteller zum Heeresdienst eingezogen […]. 1917 [kam er] nach Frankreich ins Feld. Die Kameraden waren ihm nicht sympathisch, hänselten ihn oft und nannten ihn Tutti, weil seine weiblichen Manieren trotz aller Unterdrückungsversuche immer wieder zum Vorschein kamen. 1917 […] erlitt [er] einen schweren Nervenchock […] und [wurde] im Februar 1918 mit 30% Rente entlassen. 1919 […] bekam [er] eine Stellung als Zeichner bei einer Berliner Elektrizitätsfirma. Aus dieser Stellung wurde er am 1.4.28 wegen Hysteroneurasthenie als völlig arbeitsunfähig entlassen.“

„Wie ein Frauenzimmer – sagten die Kameraden. Die verstanden nicht, daß dies das einzige ihrer Schimpfworte war, das mir nicht wehtat.“

Rahn, L.: Gespräch mit einer Frau, die einmal ein Mann war, aus: 12 Uhr Blatt vom 2.8.1932 (ohne Paginierung).

(17)

„‚Dann kam der Krieg, Krieg ist die beste Schule der Männlichkeit, fanden meine Eltern. Ich mußte mich als Freiwilliger melden. Natürlich benahm ich mich auch hier absolut „unmännlich“. Ich machte jedesmal schlapp beim Marschieren und dann ließ der Feldwebel mich allein nachexerzieren, bis ich zusammenklappte. Wie ein Frauenzimmer – sagten die Kameraden. Die verstanden nicht, daß dies das einzige ihrer Schimpfworte war, das mir nicht wehtat. Dann schickte man mich zum Küchendienst, wo es sich zeigte, daß ich den Kochlöffel weitaus besser halten konnte als das Gewehr. Ich machte den Krieg bis zu Ende mit, in der Küche natürlich, wurde verschüttet und bekam dann nach Kriegsende als Kriegsbeschädigter eine feste Anstellung in einem städtischen Büro, wo ich Pläne zu zeichnen hatte.‘“

1928–1933

Institut für Sexualwissenschaft

(18)

In den 1920er Jahren wird Olga Ebel schwer krank und bettlägerig. Toni Ebel ist gezwungen, ihre Frau zu pflegen. Zu Hause legt sie Frauenkleider an, kocht das Essen, versorgt die Gattin, macht die Wohnung sauber und wäscht die Wäsche. Olga Ebel stirbt Anfang 1928. Fortan nutzt Toni Ebel jede Gelegenheit, ihre körperliche Geschlechtsangleichung voranzutreiben. Behilflich ist ihr dabei ihre Freundin Charlotte Charlaque (1892–1961), eine gebürtige Deutsch-Amerikanerin, die als Curt Scharlach aufgewachsen war, weil auch ihre Eltern zunächst davon ausgingen, dass sie ein Junge sei. Charlotte Charlaque arbeitet als Rezeptionistin am Berliner Institut für Sexualwissenschaft und macht Toni Ebel mit dem Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld (1868–1935) bekannt.

1930 lernte ich meine Freundin kennen[,] sie war bei Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld tätig und sie stellte mein[en] Fall dem Arzt vor[;] ich kam zu Hirschfeld in Behandlung, mein Zustand besserte sich und ich ging in dem Institut ein und aus[;] auch kaufte der Sanitätsrat Bilder von mir[;] auch lernte ich dort Dr. Max Hodan[n] und andere große Persönlichkeiten kennen[,] zog nun von Steglitz nach […] Norden[,] Wolliner Str.[,] besuchte die dortigen Zahlabende der noch zum Teil bestehenden USPD […].“

Ebel, Toni: Eigene Lebensbeschreibung aus: Akte des Landesarchivs Berlin (C Rep. 118-01, Nr. A 14093).

(19)

Porträt Magnus Hirschfeld, um 1926.
Fotograf*in unbekannt
Magnus Hirschfeld (1926): Geschlechtskunde, Band I: Die körperseelischen Grundlagen. Stuttgart: Julius Püttmann, Abb. Frontispiz
Bildarchiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft
Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Berlin

(20)

Magnus Hirschfeld war ein Kraftzentrum im Berlin der Weimarer Republik. Der Arzt und Sexualforscher, der 1868 in Kolberg (heute Kołobrzeg/Polen) in eine jüdische Familie geboren wurde, gründete mit dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) 1897 die erste Selbsthilfeorganisation der Welt für Homosexuelle. Ihr Hauptanliegen war die Abschaffung des §175 im deutschen Strafgesetzbuch, der mann-männliche Sexualkontakte unter Strafe stellte. In diesem Jahr, 2022, könnte das WhK sein 125-jähriges Jubiläum feiern, hätten die Nationalsozialisten nicht 1933 sämtliche Versuche der Selbstorganisation und Emanzipation all jener Menschen zerschlagen, die sich heute im Spektrum LSBTIQA+ verorten würden.

1919 eröffnete Magnus Hirschfeld in Berlin das Institut für Sexualwissenschaft, womit er seiner Zeit um Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte voraus war. Sein Institut, unter der Adresse In den Zelten 9a im Bezirk Tiergarten gelegen, wurde als weltweit erste Einrichtung ihrer Art zu einem Aushängeschild für das weltoffene Berlin der 1920er Jahre. Es war eine Forschungsinstitution ersten Ranges, Motor einer zivilgesellschaftlichen Bürgerrechtsbewegung und Zufluchtsstätte für Menschen, die wegen ihrer sexuellen Identität auf Ablehnung stießen. Weil für Hirschfeld der Mensch seinen Anlagen gemäß nicht „Mann oder Frau“, sondern vielmehr „Mann und Frau“ in einem war, entwickelte sich sein Institut schnell zu einer internationalen Drehscheibe und als Fluchtpunkt auch für die sich damals entwickelnde „Transvestitenszene“.

(21)

Der Institutsarzt Felix Abraham berät einen männlichen Transvestiten, um 1929.
Fotograf*in unbekannt
Bildarchiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft
Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Berlin

„(…) dass bereits der männliche Same und das weibliche Ei jedes für sich mann-weibliche, hermaphroditische Gebilde sind.“

Hirschfeld, Magnus: Die Transvestiten. Eine Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb mit umfangreichen casuistischen und historischen Material, Leipzig: Spohr, 2. Aufl., 1925, S. 3–4.

(22)

„Die Trennung der Menschheit in eine männliche und weibliche Hälfte gehört zu den Lehr- und Leitsätzen, die jedermann in Fleisch und Blut übergegangen sind. […] Man kann es fast so formulieren: M. und W. sind das A. und O. der höheren Wesenheiten — in Worten ausgedrückt: sie verdanken dem  m ä n n l i c h e n  und  w e i b l i c h e n  Prinzip  U r s p r u n g  und G e p r ä g e. Aber verfehlt ist es, stellt man sich beide als zwei völlig von einander gesonderte Einheiten vor; im Gegenteil, die stets vorhandene Verschmelzung  b e i d e r  i n  e i n e m, ihr unendlich variables Mischungsverhältnis, das damit beginnt, dass bereits der männliche Same und das weibliche Ei jedes für sich mann-weibliche, hermaphroditische Gebilde sind, dieser  M o n i s m u s  d e r  G e s c h l e c h t e r  ist der Kernpunkt für Entstehung und Wesen der Persönlichkeit.“

„Es ist eine Tatsache – gerade in Berlin, aber anderswo auch, kann man sich nicht sicher sein, dass die Frau, die man sieht, wirklich eine Frau ist.“

Ahlstedt, Ragnar (1933): „Männer, die zu Frauen wurden. Zwei Fälle von Geschlechtsumwandlung auf operativem Weg. Eine Studie des Transvestitismus“, in: Mitteilungen Nr. 67, S. 33–40, 2022, hier: S. 33.

(23)

„Während ich warte, sehe ich mich um. In den Sesseln drüben am Fenster sitzt eine kleine Gruppe von zwei Damen und zwei Herren. Sie unterhalten sich leise, und nach einer Weile wird mein Interesse von den Stimmen der beiden Frauen eingefangen – da ist eine bestimmte Färbung der Stimme, die mich aufhorchen lässt. Man hat ja nicht umsonst einst an dem inzwischen zerstörten Hirschfeld-Institut mitsamt all seiner merkwürdigen Sachen eingehende Studien betrieben. Wahrlich, sind das nicht … Transvestiten? […] Transvestiten, das sind ja nicht gerade Leute von ungefähr, weder in Berlin noch anderswo. Es hat schon immer etliche von diesen femininen Männern gegeben, die es lieben, Frauenkleider zu tragen, und von mannhaften Frauen, die sich in Smoking und Monokel in den Restaurants zeigen. Es ist eine Tatsache – gerade in Berlin, aber anderswo auch, kann man sich nicht sicher sein, dass die Frau, die man sieht, wirklich eine Frau ist.“

(24)

Magnus Hirschfeld nimmt sich Toni Ebels an, er ermöglicht ihr geschlechtsangleichende Operationen, wie sie vor Toni Ebel etwa Charlotte Charlaque und Dora Richter (1892–nach 1939) an sich vornehmen ließen. Zeitweise wohnt und arbeitet Toni Ebel sogar im Institut für Sexualwissenschaft am Rande des Tiergartens. Als „Dienstmädchen“ erhält sie hier Kost und Logis, zusätzlich verdient sie 24 RM monatlich. Am 6. Januar 1929 kommt es zur ersten Operation. Zu diesem Zeitpunkt ist Toni Ebel 47 Jahre alt. Insgesamt zieht sich in ihrem Fall die chirurgische Behandlung über etwa drei Jahre hin. Da sie sich von ihrem geringen Gehalt die operativen Eingriffe nicht leisten kann, bezahlt sie ihre Ärzte in Form von Bildern. Insbesondere Magnus Hirschfeld soll mehrere Werke Toni Ebels erworben haben.

„Niemand würde ihr ansehen, daß sie 46 Jahre ihres Lebens als Mann verbracht hat, und noch weniger, daß sie sich jetzt noch alle vierzehn Tage einmal rasieren muß.“

Rahn, L.: Gespräch mit einer Frau, die einmal ein Mann war, aus: 12 Uhr Blatt vom 2.8.1932 (ohne Paginierung).

(25)

„‚Vor vier Jahren ist meine Frau gestorben. Von diesem Tag an bin ich von einem Arzt zum andern gelaufen und habe ihn um die Operation gebeten, die man vor zwei Jahren schon einmal an einem Transvestiten, der allerdings zehn Jahre jünger war als ich, vorgenommen hatte. Von der Operation selbst, die Professor Gohrbandt vom Urban-Krankenhaus und Dr. Abraham vom Hirschfeld-Institut gemacht haben, kann ich Ihnen nicht viel mehr erzählen, als daß sie gut gegangen ist.‘ […] Wally E. knipst eine kleine Tischlampe an, und bei diesem Licht sieht sie noch jünger und vor allem ‚echter‘ aus als vorher. Niemand würde ihr ansehen, daß sie 46 Jahre ihres Lebens als Mann verbracht hat, und noch weniger, daß sie sich jetzt noch alle vierzehn Tage einmal rasieren muß.“

(26)

Im Frühling 1928 erhält Toni Ebel einen sogenannten Transvestitenschein, der es ihr erlaubt, auch in der Öffentlichkeit als Frau gekleidet aufzutreten. Doch trotz der Fürsprache Magnus Hirschfelds und anderer am Institut für Sexualwissenschaft hat sie mit Schwierigkeiten im Umgang mit den Behörden zu kämpfen. Ein erster Antrag auf Änderung ihres Vornamens von Arno zu Annie wird 1929 nicht befürwortet. Erst im Februar 1930 wird ihrem Antrag, den Vornamen Toni tragen zu dürfen, stattgegeben.

„Der Antragssteller wünscht, da er bereits in seinem Bekanntenkreis Annie genannt wird, auch diesen Vornamen zu erhalten.“

Brief von Walther Niemann zur Namensänderung Toni Ebels vom 18. März 1929, aus: Akte des Landesarchivs Berlin (A Rep. 341-04, Nr. unverz.).

(27)

„Er ist zur Zeit bei Herrn Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld in dessen Institut angestellt und verrichtet dort Frauendienste. Der Antragssteller fühlt sich wohl in dieser Stellung, hat daher aber auch den dringenden Wunsch, da diese Stellung keine Lebensstellung ist und er bald wieder gezwungen wird, Geld zu verdienen, dass ihm mit seinem männlichen Vornamen keine Schwierigkeiten im Fortkommen bereitet werden[,] und bittet daher, seinen Vornamen Arno in  A n n i  umwandeln zu dürfen.
[…] Der Antragssteller wünscht, da er bereits in seinem Bekanntenkreis Annie [sic] genannt wird, auch diesen Vornamen zu erhalten.
Sollten irgendwelche Bedenken bestehen, so ist er auch damit einverstanden, dass ihm der Vorname Toni verliehen wird.“

(28)

Die Praxis der Transvestitenscheine im ersten Drittel des Zwanzigsten Jahrhunderts geht auf Magnus Hirschfeld zurück. Formal gab es im damaligen Deutschen Reich kein Gesetz, nach dem das Tragen der Kleidung des jeweils „anderen“ Geschlechts verboten war. Wenn eine Person aber durch das Ausgehen in diesen Kleidern „öffentliches Aufsehen“ erregte, konnte sie wegen „groben Unfugs“ angehalten und bestraft werden. Transvestitenscheine wurden ab etwa 1912 nicht nur in Berlin ausgestellt, verlässliche Zahlen über ihre Verbreitung liegen aber nicht vor. In der Weimarer Republik war die Vornamenswahl vor und nach einer Geschlechtsangleichung nicht frei. Laut einer allgemeinen Verfügung standen wenige „neutrale“ Namen wie Theo, Alex, Toni oder Gerd zur Auswahl.

(29)

Transvestitenschein von Berthold Buttgereit/ Reisepass für eine „Transvestitin“, 1918.
Landesarchiv Berlin, Sign. A Rep. 341-04 Nr. 1087 Bl. 16 (Vorderseite)
Landesarchiv Berlin
Transvestitenschein von Berthold Buttgereit/ Reisepass für eine „Transvestitin“, 1918.
Landesarchiv Berlin, Sign. A Rep. 341-04 Nr. 1087 Bl. 16 (Rückseite)
Landesarchiv Berlin

(30)

Um 1930 bestreitet Toni Ebel ihren Lebensunterhalt weitgehend durch ihre Kunst. Sie malt Porträts, Stillleben und Landschaftsbilder, aber sie nimmt auch zeittypische Kopieraufträge wie etwa den damals Rembrandt zugeschriebenen Mann mit Goldhelm an. Heute gilt ihr Frühwerk als verloren. Abgesehen von dem Gemälde Näherin und Junge sind alle Bilder Ebels aus dieser Zeit vernichtet oder verschollen. In der Zeitschrift Die Freundin wird „Fräulein Toni Ebel“ 1930 als „bekannte Kunst- und Theatermalerin” bezeichnet. In jenem Jahr übernimmt sie die künstlerische Ausstattung des Ballsaals in dem Berliner Lokal „Zauberflöte“, Kommandantenstraße 72, in dem sich der „Damenklub Violetta“ unter der Leitung der lesbischen Aktivistin Lotte Hahm (1890–1967) trifft. In der Ankündigung einer Tanzveranstaltung gibt sich die Clubleitung gewiss, die „Freundinnen“ des Clubs würden überrascht sein und den Saal in japanischem Stil nicht wiedererkennen.

(31)

Toni Ebel, Dora Richter und Charlotte Charlaque gehören um 1930 zu den Hausangestellten des Instituts für Sexualwissenschaft. Wenig später treten sie auch in dem österreichischen Aufklärungsfilm Mysterium des Geschlechts von Lothar Golte auf, allerdings ohne dass ihre Namen genannt oder nähere Angaben zu ihren individuellen Lebenswegen gemacht werden. Der Film, der am 27. April 1933 seine Premiere in Wien erlebt, erzählt in einer eher trivialen Rahmenhandlung, wie zwei angehende Mediziner*innen, ein heterosexuelles Pärchen, sich auf die Abschlussprüfung an der Universität vorbereiten. In die Rahmenhandlung sind verschiedene dokumentarische Filmsequenzen geschaltet, in denen es um „sexuell anormale Menschen“ geht.

(32)

Toni Ebel, Charlotte Charlaque und Dora Richter. Standbild aus dem Film Mysterium des Geschlechts, 1933.
Filmarchiv Austria, Wien

(33)

Lili Elbe: Ein Mensch wechselt sein Geschlecht. Umschlag der deutschsprachigen Buchausgabe, 1932.
Bildarchiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft
Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Berlin

(34)

Heute wird die Dänin Lili Elbe (1882–1931) von vielen irrtümlicherweise als weltweit „erster Fall“ einer geschlechtsangleichenden Operation angesehen. Durch ihre posthum erschienene Buchveröffentlichung Ein Mensch wechselt sein Geschlecht erlangte Lili Elbe ab 1931 weltweite Aufmerksamkeit. In neuerer Zeit brachte der Film The Danish Girl (2015) von Tom Hooper ihre Geschichte erneut ins allgemeine Bewusstsein zurück. Verkannt werden darf aber nicht, dass Lili Elbe im Bestreben, sich selbst als einzigartig zu stilisieren, nicht immer zuverlässige Angaben machte. Als sie noch vor ihrer geschlechtsangleichenden Operation das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin besuchte, soll eine Assistentin Hirschfelds zu ihr gesagt haben: „Ihr Fall ist für uns hier ein Novum.“ Die „Fälle“ Toni Ebel, Dora Richter und Charlotte Charlaque, die sich vor Lili Elbe operieren ließen, zeigen, dass dem nicht so war.

Ludwig Levy-Lenz (1892–1966), einer der Operateure von Toni Ebel, erwähnt in seinen Memoiren Erinnerungen eines Sexual-Arztes von 1953 auch die einstigen Hausangestellten am Berliner Institut für Sexualwissenschaft. In Ludwig Levy-Lenz‘ Buch heißt es: „So hatten wir z. B. fünf Dienstmädchen – alles transvestitische Männer, und ich werde den Anblick nie vergessen, der sich mir bot, als ich einmal nach Feierabend in die Küche des Hauses verschlagen wurde: da saßen die fünf ‚Mädchen‘ strickend und nähend friedlich nebeneinander und sangen gemeinsam alte Volkslieder. Jedenfalls war es das beste, fleißigste und gewissenhafteste Hauspersonal, das wir je gehabt haben. Niemals hat ein Fremder, der uns besuchte, etwas davon gemerkt.“

(35)

Toni Ebel und Charlotte Charlaque verbindet nach den geschlechtsangleichenden Operationen, denen sich beide unterziehen, eine innige Beziehung, die an ein Liebesverhältnis denken lässt. In erhaltenen Dokumenten sprechen die beiden Frauen übereinander als ihr „Liebstes“ und ähnliches. Um 1933 wohnen sie in eher bedrängten Verhältnissen in der Nollendorfstraße 24 in Berlin-Schöneberg zusammen. Charlotte Charlaque ist Jüdin, und Toni Ebel tritt nun auch zum Judentum über. Sie behauptet später, sie sei schon von Geburt an „jüdisch versippt“ gewesen, doch haben sich hierfür noch keine Belege finden lassen. Nach 1945 gibt Toni Ebel zudem an, bei der Plünderung des Instituts für Sexualwissenschaft am 6. Mai 1933, die den Auftakt für die Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz (heute Bebelplatz) vier Tage später bilden sollte, seien auch etliche ihrer Gemälde und Zeichnungen zerstört worden.

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Privatfoto vom Aufmarsch zur Plünderungsaktion vor dem Institut für Sexualwissenschaft am 6. Mai 1933.
Fotograf*in unbekannt
Bildarchiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft
Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Berlin

(37)

Die vandalisierte Institutsbibliothek nach der Plünderung vom 6. Mai 1933.
Fotograf*in unbekannt
Bildarchiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft
Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Berlin

1933–1945

Flucht in die Tschechoslowakei

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In einem Zeitungsinterview, das Toni Ebel 1932 gibt, teilt sie mit, dass sie einen Freund habe, sie wolle ihn auch gerne heiraten, sofern er denn nur eine feste Anstellung habe. Gleichwohl bindet sich Toni Ebel in der Folge nicht an diesen Mann, sondern immer stärker an ihre Freundin Charlotte Charlaque. Als die beiden Frauen gewarnt werden, sie würden beobachtet, flüchten sie mit Hilfe der jüdischen Gemeinde in Berlin im Mai 1934 nach Karlsbad (Karlovy Vary) in der damaligen Tschechoslowakei. Hier malt Toni Ebel Bilder für Kurgäste, während Charlotte Charlaque Englisch- und Französischunterricht erteilt. Da das Leben in der Tschechoslowakei vergleichsweise günstig ist und Toni Ebel nach wie vor ihre Rente aus Deutschland bezieht, können die beiden Frauen eine Zeit lang relativ sorglos leben.

„1932 fing schon Nazihetze an[,] ich fing wieder an zu politisieren[,] ging in Versammlungen, aber ich musste bald zu der Überzeugung kommen[,] dass alles schon zu spät war. Meine Freundin konnte nicht mehr zu mir kommen[,] da sie Jüdin war und die Leute in meinem Hause im Norden uns schon damals beschimpften. 1933 kam die Wahl, ich wählte Liste 8, denn meine Partei, USPD[,] war schon gleich 0. Mir wurde immer unheimlicher, ich zog nach […] Westen zu meiner Freundin, Nollendorfstraße 24. […] Wir hielten uns noch bis Mai 1934 in Berlin auf[,] konnten uns aber nicht mehr länger halten[,] wir bekamen eine Beleidigung nach der anderen zu verspüren, es wurde auch bekannt[,] dass ich Sozialdemokratin gewesen war, meine Halbschwester, Frau Garbrecht[,] die kannte mein[e] Wirtin[,] kam zu uns und sagte uns[:] Kinder macht, dass ihr fortkommt[,] man ist hinter euch her, bei Hirschfeld habe man meine Bilder mitverbrannt[,] und somit sind wir zur jüdischen Gemeinde gegangen[,] haben den ganzen Sachverhalt vorgetragen und sind dann von der Gemeinde nach Karlsbad in der CSR gesandt worden[,] meine Freundin und ich haben aufgeatmet, endlich Ruhe!“

Ebel, Toni: Eigene Lebensbeschreibung aus: Akte des Landesarchivs Berlin (C Rep. 118-01, Nr. A 14093).

(39)

Im Spätsommer 1934 ziehen Toni Ebel und Charlotte Charlaque vorübergehend nach Prag, wo sie Kontakt mit dem Emigranten-Komitee der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) aufnehmen. Doch fühlen sie sich in der Stadt nicht wohl, auch weil sie hier nicht die Hilfe finden, die sie sich erhofft haben. Später behaupten sie, in Prag habe es überall von deutschen Emigranten und Emigrantinnen gewimmelt, die Hilfskomitees seien überlastet gewesen. Die Lage in der tschechoslowakischen Hauptstadt erscheint ihnen aussichtslos, und sie kehren nach Karlsbad zurück.

(40)

Toni Ebel und Charlotte Charlaque in ihrer gemeinsamen Wohnung, 1933.
Foto: Ragnar Ahlstedt
Ragnar Ahlstedt (1933): Män som blivit kvinnor. Två fall av könsväxling på operativ väg. En studie av transvestitismens väsen. Tranås: Berg

(41)

Ende 1936 lassen sich Toni Ebel und Charlotte Charlaque schließlich in Brünn (Brno) nieder, wo sie bis zum Frühjahr 1939 bleiben. Hier stehen sie nachweislich in Kontakt mit Karl Giese (1898–1938), Magnus Hirschfelds früherem Geliebtem und Archivar im Institut für Sexualwissenschaft, der Berlin unmittelbar nach der Plünderung des Instituts verlassen hat. Doch die persönliche Sicherheit Toni Ebels und Charlotte Charlaques in Brünn ist bald bedroht. Es kommen Gerüchte über die zwei Frauen auf, und die tschechoslowakischen Behörden sammeln „Informationen“ über sie. Es heißt, Toni Ebel und Charlotte Charlaque besuchten oft Nachtlokale, in denen sie viel Geld „verschwendeten“, was ihrem Einkommen nicht entspreche. Schließlich werden Haussuchungen bei ihnen durchgeführt, und sie müssen sich alle vierzehn Tage bei der Polizei melden. Insbesondere Toni Ebel gilt in Brünn bald als „ungebetene Ausländerin“.

(42)

Karl Giese und Magnus Hirschfeld, 1932.
Fotograf*in unbekannt
Bildarchiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft
Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Berlin

(43)

Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Tschechoslowakei und der Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ im Frühjahr 1939 spitzen sich die Ereignisse um Toni Ebel und Charlotte Charlaque zu. Sie ziehen nun erneut nach Prag, das in ihren Augen „tschechischer“ und weniger „deutsch“ als Brünn ist. Sie hoffen, in der Anonymität der tschechoslowakischen Hauptstadt leichter untertauchen zu können. Charlotte Charlaque erteilt nach wie vor Sprachunterricht, wohl vor allem für Flüchtlinge aus Deutschland, die nach Frankreich, Großbritannien oder in die USA weiterziehen wollen. Für diese Flüchtlinge erledigt Charlotte Charlaque auch den notwendigen Schriftverkehr mit ausländischen Stellen. Toni Ebel und ihre Freundin sollen in dieser Zeit vorübergehend auch zwei jüdische Schauspieler bei sich versteckt halten.

(44)

Am 19. März 1942, Toni Ebel und Charlotte Charlaque feierten in ihrer Prager Wohnung gerade den zehnten Jahrestag ihres „Zusammenseins“, klopfte es plötzlich an der Tür. Charlotte Charlaque wurde vom Küchentisch aus in Gefängnishaft genommen, weil die Fremdenpolizei kurz zuvor in Erfahrung gebracht hatte, dass sie Jüdin war. Charlotte Charlaque sollte in Theresienstadt interniert werden, eine entsprechende Kennkarte war bereits angelegt. Offiziell galt Charlotte Charlaque zu jener Zeit als staatenlos, weil ihr alter US-amerikanischer Pass abgelaufen war. Doch gelang es Toni Ebel, den Schweizer Konsul in Prag, der die Vertretung für den amerikanischen Konsul innehatte, davon zu überzeugen, dass ihre Freundin amerikanische Staatsbürgerin war.

„Ich habe für die Tschechen viel[e] Bilder gemalt, wir fristeten unser Leben. 1942[,] gerade als wir unser zehnjähriges Zusammensein feierten, wurde meine Freundin verhaftet und das war im März. Sie wurde ins Gefängnis gesteckt und ich bekam von der jüdischen Gemeinde [gesagt], dass meine Freundin auf eine Zeit nach Theresienstadt müsste; mich packte die Wut, ich lief zum Schweizer Konsul, denn dieser hatte die Vertretung für den amerikanischen Konsul[,] und legte ihm diese Angelegenheit vor; meine Freundin wurde aus dem Gefängnis dem amerikanischen Lager in Liebenau überwiesen. […] Ich war nun allein und hatte zu anfangs viel zu leiden[,] nachdem man 10 Jahre mit einem guten Menschen Freud und Leid geteilt hatte[.]“

Ebel, Toni: Eigene Lebensbeschreibung aus: Akte des Landesarchivs Berlin (C Rep. 118-01, Nr. A 14093).

(45)

Charlotte Charlaque wurde nach Deutschland deportiert und zusammen mit anderen amerikanischen Frauen und Kindern im Internierungslager Liebenau am Bodensee untergebracht. Wenige Monate später ging es von hier aus weiter nach Lissabon (Portugal) und von dort schließlich in die USA. Charlotte Charlaque erreichte New York am 2. Juli 1942. Hier war sie vor dem Zugriff der Nazis sicher, doch waren ihre Ausweisung und ihr Transport nach Amerika unter der Auflage erfolgt, dass sie nichts über ihre Erlebnisse und Erfahrungen im „Dritten Reich“ verlauten ließ. Von deutscher Seite wurde ihr gedroht, wenn sie mit jemandem über die Vorgänge spreche, werde man Toni Ebel „um die Ecke bringen“.

„1942 im Mai musste ich zum Schweizer Konsul und bekam die Nachricht, dass meine Freundin nach Amerika gesandt wird[;] es gingen mehrere Transporte mit amerikanischen Staatsbürgern fort. Ich musste alle ihre Sachen packen und unter Eid versichern, dass ich nichts zurück behalten habe. Das Schiff ging am 20. Mai 1942 von Lissabon nach New York[;] am 27. Mai war sie schon in Amerika, ich war froh, sie hatte ich aus den Gaskammern der Nazis gerettet!“

Ebel, Toni: Eigene Lebensbeschreibung aus: Akte des Landesarchivs Berlin (C Rep. 118-01, Nr. A 14093).

(46)

Ursprünglich wollte Toni Ebel ihrer Freundin in die USA folgen, doch weil sie keinen Bürgen in Lissabon stellen konnte, wurde ihr die Ausreise nach Portugal vom Prager Landrat nicht genehmigt. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs musste sie in der deutsch besetzten Tschechoslowakei bleiben, und sie wurde mehrfach von der Gestapo verhört. Lange Zeit war sie über das Schicksal Charlotte Charlaques im Ungewissen. Erst Im Herbst 1943 erhielt sie über das Rote Kreuz die Nachricht, ihre Freundin wohne in New York und sei bei guter Gesundheit. Gleichwohl sollten sich Toni Ebel und Charlotte Charlaque nie wiedersehen.

„[I]m März [1943] erhielt ich eine Vorladung[,] zur Gestapo zu erscheinen […]. Der Beamte, der mich vernahm, kam mir sehr bekannt vor; nach meiner Ansicht war es ein ehemaliger SPD[-]Mann aus Berlin, er kannte mich ganz genau, das entnahm ich aus seinem Gerede; er fuhr mich an – […] was haben Sie denn mit den Emigranten zu tun, du bist doch kein Jude[,] hast ja ein[en] arischen Pass; das war mein Glück, dass ich einen arischen Pass in Brünn bekommen hatte. Er sagt[:] […] [W]arum willste denn nach Spanien bei [die] Kommunisten[?] Ich sagte, ich will nach Lissabon zu meiner Freundin. […] Ein zweites Mal wurde ich wieder vorgeladen; wo er mir sagte[:] [N]a siehste, es ist doch schön bei uns, wirst dir schon dran gewöhnen, kannst gehen […]. Ein drittes Mal wurde ich geladen, er gab mir nun bekannt[,] dass aus meiner Reise nach Lissabon nichts wird. Ist abgelehnt, konnte nun wieder gehen und wurde nie wieder vorgeladen. Wenn dieser Mann gewusst hätte, […] dass ich nicht rein arisch bin und Glaubensjüdin war, der hätte mich bestimmt nicht immer laufen lassen. Nach meiner Ansicht wollte der Beamte nur sehen, ob ich ihn erkenne […], bin [ihm] aus dem Wege gegangen, das war meine Rettung vor dem KZ.“

Ebel, Toni: Eigene Lebensbeschreibung aus: Akte des Landesarchivs Berlin (C Rep. 118-01, Nr. A 14093).

1945–1961

Leben als Malerin in der DDR

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Anfang Mai 1945 wird Toni Ebel als Deutsche in der Tschechoslowakei interniert, und einen Monat später muss sie unter Zurücklassung all ihrer Habe das Land verlassen. Verloren gehen so etliche ihrer Bilder, die sie in Prag gemalt hat bzw. die sich nach wie vor in ihrem Besitz befinden. Toni Ebel wird von tschechoslowakischen Kräften nach Polná an der Grenze zu Bayern verbracht, von dort aus läuft sie 270 km zu Fuß bis Cottbus und erhält hier schließlich die Erlaubnis, auf einem Kohlenzug nach Berlin mitzufahren. Unterwegs muss sie betteln. Am 22. Juni 1945 erreicht Toni Ebel endlich ihre Geburtsstadt, wo es ihr gelingt, eine Halbschwester von sich ausfindig zu machen. Bei ihr kann sie nun vorübergehend wohnen.

 

„1945 am 5. Mai kam der Umsturz. Ich war gerade im Luftschutzkeller. Morgens kamen noch zwei Freunde von mir und sagten[,] die Freiheit kommt, ich soll zu Hause bleiben, sie wollen mich holen.
Am Nachmittag wurde ich von Partisanen aus dem Luftschutzkeller verhaftet und zu den Menschen geführt, die mit mir in ein Lager kamen und dann ins Gefängnis. […] [I]ch habe mein Atelier und alle meine Habe nicht mehr wieder gesehen. Vom 5.5.45 bis zum 6.6.45 war ich inhaftiert, am 6.6. kam ich mit den anderen Deutschen auf den Transport an die deutsche Grenze. Hirschfeld hatte man uns ausgeladen und gesagt[:] [S]o[,] nun könnt ihr gehen! Mittellos, ohne Geld[,] ohne alles[,] nur das, was ich auf dem Leibe hatte, bin ich nun zu Fuß bis nach Cottbus gelaufen […]. In Cottbus bekamen wir von preußischer Komman[dan]tur die Erlaubnis[,] mit einem Kohlezug nach Berlin-Oberschöneweide zu fahren. Ich war nun vom 6.6.45 bis 22.6.45 unterwegs[;] in Berlin angekommen suchte ich meine Halbstiefschwester Frau Garbrecht auf und wohne seit dem 22.6.45 bei Frau Garbrecht.“

Ebel, Toni: Eigene Lebensbeschreibung aus: Akte des Landesarchivs Berlin (C Rep. 118-01, Nr. A 14093).

(48)

Toni Ebel ist zurück in Berlin, doch sie ist mittellos und gesundheitlich angeschlagen. Erst allmählich kann sie sich eine neue Existenz als Malerin aufbauen. 1946 tritt sie dem Schutzverband Bildender Künstler und dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund bei, Anfang 1947 wird sie vom Hauptausschuss Opfer des Faschismus als „rassisch“ Verfolgte anerkannt, und am 1. April 1947 wird sie Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Im Umgang mit offiziellen Stellen ist Toni Ebel nicht immer ehrlich, und sie „passt“ ihren Lebenslauf da an, wo es für sie von Vorteil ist. So nennt sie sich jetzt gern „akademische Malerin“. Ihren Worten wird Glauben geschenkt, zumal viele offizielle Dokumente aus der Zeit vor 1945 infolge von „Kriegseinwirkung“ vernichtet sind. Andere Papiere hat Toni Ebel im Zuge ihrer Ausweisung aus der Tschechoslowakei verloren. Dass Toni Ebels Eltern keine Juden waren, sie selbst als Junge aufgewachsen war und bis zu ihrem 47. Lebensjahr als Mann galt, scheint dem Hauptausschuss Opfer des Faschismus verborgen zu bleiben.

(49)

In der DDR gelangt Toni Ebel bald zu einer gewissen Berühmtheit. Sie ist um den Jahreswechsel 1951/52 mit Werken in der Ost-Berliner Schau Künstler schaffen für den Frieden und in den folgenden Jahren in mehreren der jährlich stattfindenden „Deutschen Kunstausstellungen“ im Dresdner Albertinum vertreten. 1956 wird sie aus Anlass ihres 75. Geburtstags mit einer eigenen Kabinettausstellung im Alten Marstall an der Breiten Straße in Ost-Berlin gewürdigt. In Zeitungsartikeln, die aus Anlass von Ausstellungen oder ihrer runden Geburtstage in der Presse der DDR erscheinen, wird Toni Ebel wiederholt als temperamentvolle kleine Frau beschrieben, die „wieselflink“, „verschmitzt“ und „burschikos“ sei – und mit tiefer Stimme spreche. Ihre weibliche Identität wird dabei nie in Frage gestellt.

„Man müßte vor allem ihre tiefe Baßstimme übermitteln können, die eigentlich so gar nicht zu der zierlichen, kleinen Frau paßt.“

Kei: „Een Besuch bei Toni Ebel“. „Sollnse schmiern wie se wolln, aba ick will’n Boom sehn und keen Strich!“ aus: Neue Zeit, 9.2.1958, S. 8.

(50)

„Diesmal haben wir es wirklich bedauert, keine Fernsehkamera oder doch wenigstens ein Mikrofon zur Hand zu haben. Es fällt wirklich schwer, allein mit dem gedruckten Wort ein rechtes Bild von der bekannten Berliner Malerin Toni Ebel zu vermitteln. Man müßte dazu zeigen können, wie diese einzigartige, kleine Frau mit den schlohweißen Haaren sich trotz ihrer 76 Jahre wieselflink durch ihre hübsche Atelierwohnung am Straußberger Platz bewegt; müßte die unnachahmliche Grazie beschreiben, mit der sie bei der Arbeit ihr Werkzeug handhabt; müßte wiedergeben können, wie sie im Gespräch auch nicht eine Minute auf ihrem Stuhl sitzen bleiben kann, sondern ununterbrochen immer etwas herbeischleppen muß, um ihre Erzählung zu illustrieren […]. Man müßte vor allem ihre tiefe Baßstimme übermitteln können, die eigentlich so gar nicht zu der zierlichen, kleinen Frau paßt. Man müßte …, aber am besten mag es wohl gehen, wenn wir sie selbst sprechen lassen.“

„‚Hier beispielsweise. Det soll nach Dresden jehn. „Wissen is Macht” heeßtet.‘“

Kei: „Een Besuch bei Toni Ebel“. „Sollnse schmiern wie se wolln, aba ick will’n Boom sehn und keen Strich!“ aus: Neue Zeit, 9.2.1958, S. 8.

(51)

„‚[…] Det hia is mein Ateljeh. Da an de Wände hängn meine Arbeiten. Ja, ick bin Porträtmalerin, stimmt schon, aba ick mach ooch andre Sachen. Landschaften und so. Aba lieba mach ick Porträts. […] Früher hab ick mal impressionistisch jemalt. Aba jetzt bin ick Realistin. Ne, von det janze moderne Zeuch halt ick nich viel. Sollnse schmiern wie se wolln, aba ick will’n Boom sehn und keen Strich. […]
[I]ck kann nich imma detselbe machn. Deswejen hab ick ooch imma gleich mehr Bilda in Arbeet. Hier beispielsweise. Det soll nach Dresden jehn. „Wissen is Macht” heeßtet.‘ […]
Ausbildung hab ick nie jehabt. Ick bin doch Autodidaktin det hat so in mia drinne jesteckt, Na, mein Vater hat ja ooch son bisken nebenher jemalt. Aba als er hörte, det ick Malerin wern will, wara jarnich einverstanden. Da bin ick denn mit achtzehn Jahren jetürmt. […] Un denn bin ick ’n paar Jahre Reisebejleiterin von een Kunsthändla jewesen. Mit den war ick in Afrika und Amerika und wat wees ick, wo noch übaall. Zehn Jahre war ick untawechs‘.
‚In die zehn Jahre, wo ick weg war, hab ick ja nich dauernd als Malerin jehn könn. Lebn mußt ick ja ooch. Na, da hab ick denn jearbeitet. […] In de Fabrik als Metallarbeiterin un als Packerin un als technische Zeichnerin un so. Ja, un als ick wieda zurück war, hab ick aus Bücha Anatomie un Perspektive studiert. Ja, un Rembrandt. Det is det beste Studium. Der hat übrijens ooch viel Selbstbildnisse jemacht. Wie ick.‘“

(52)

Künstler schaffen für den Frieden. Broschüre zur Ausstellung des „Verbands Bildender Künstler“ in den Staatlichen Museen zu Berlin, 1951/52.
Verband Bildender Künstler (Hg.) ([1951]): Künstler schaffen für den Frieden. Veranstaltet vom „Verband Bildender Künstler“ im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, 1. Dezember 1951–31. Januar 1952 in den Staatlichen Museen zu Berlin, Museumsbau am Kupfergraben. Deutsche Kunstausstellung. Berlin: Selbstverlag
Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft

(53)

Toni Ebel verstand sich als sozialistische Künstlerin, und sie gab sich in der frühen DDR ganz und gar staatstragend, zumal ihr vom „Arbeiter- und Bauernstaat“ eine „Ehrenrente“ zugesprochen worden war. Ende 1953 konnte sie dann gar eine kleine, aber repräsentative Atelierwohnung am Strausberger Platz 8 in Berlin-Friedrichshain beziehen. Auf ihre Lieblingsfarbe angesprochen, antwortete sie einmal: „Na, rot, Mensch, ick bin doch selba rot.“ Als der mexikanische Wandmaler Diego Rivera (1886–1957) Mitte der 1950er Jahre nach Ost-Berlin kam und das Gespräch mit namhaften Künstlern und Künstlerinnen der DDR suchte, unterzeichnete Toni Ebel zusammen mit etlichen anderen eine Resolution des Verbands Bildender Künstler, nach der die vielen leeren Wände der Stadt bemalt werden sollten, damit „der Eindruck von Ruinen und Friedhof sich verwandelt zu einer farbigen Stätte der Freude und unserer großen sozialistischen Zukunft“.

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Das Haus Berlin am Strausberger Platz.
PGH-Film und Bild
Zeitgenössische Postkarte, gelaufen 1964
In Privatbesitz
Raimund Wolfert, Berlin

(55)

Der Magistrat der Stadt Berlin erwarb in den 1950er Jahren mehrere Bilder Toni Ebels, von denen heute allerdings viele als verschollen gelten müssen. Nach Toni Ebels eigenen Angaben von 1958 zeigte ihr „bestes Bild“ eine Frau neben einem Plakat, auf dem dazu aufgefordert wird, eine Schweigeminute einzulegen. Das Bild trug den Titel Hiroshima. Über seinen Verbleib ist heute nichts bekannt. In der DDR-Presse wurde Toni Ebel gerne mit Käthe Kollwitz und Sella Hasse (1878–1963) in einem Atemzug genannt. Über die drei Malerinnen und andere hieß es 1960 in einem Zeitungsartikel: „Sie alle kämpften sich zu ihrer Kunst und zu ihrer Leistung unter denkbar schweren Opfern durch.“

Einen wohlwollenden Förderer hatte Toni Ebel in der frühen Nachkriegszeit in Heinrich Beck (1908–?) gefunden, der von 1953 bis 1957 Direktor des Märkischen Museums in Ost-Berlin war. Heinrich Beck soll homosexuell gewesen sein und hatte daher wohl bisweilen einen „schweren Stand“, im Übrigen liegen über seinen Lebensweg aber kaum Angaben vor. Vermutlich lernte Toni Ebel über Beck auch Charlotte von Mahlsdorf (geboren als Lothar Berfelde, 1928–2002) kennen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst „Lottchen“ nannte. Charlotte von Mahlsdorf absolvierte von 1949 bis 1953 eine Ausbildung zur Museumskuratorin am Märkischen Museum und arbeitete anschließend als freiberufliche Konservatorin und Trödlerin, wobei sie dem Museum verbunden blieb. Sie sammelte historische Alltagsgegenstände und baute langsam eine eigene Sammlung auf, aus der 1960 ihr privat betriebenes „Gründerzeitmuseum“ im Ost-Berliner Ortsteil Mahlsdorf entstand.

(56)

Charlotte von Mahlsdorf, 1990er Jahre.
Fotografin: Monika Uelze
Gründerzeitmuseum (Monika Schulz-Pusch)

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Im Detail ist heute kaum bekannt, mit wem Toni Ebel in ihren letzten Lebensjahren Umgang pflegt. Sie lernt jüngere Künstler wie die Maler Fritz Dähn (1908–1980) und Josef Brück (1924–2013) kennen, die sie auch porträtieren. Offenbar verbindet sie mehr als nur die Kunst. Bekannt ist, dass Toni Ebel mit ihrer Freundin Charlotte Charlaque in New York mindestens bis 1947 in brieflichem Kontakt steht. Um diese Zeit kommt es auch zu einer „Versöhnung“ zwischen Toni Ebel und einigen ihrer Geschwister. Insbesondere mit ihrem jüngeren Bruder Arthur Ebel (1884–1968), der in den 1950er Jahren mit seiner Familie in der Uckermark lebt, versteht sie sich gut. Adelheid Schulz (1909–2008), die frühere Hauswirtschafterin an Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft, besucht Toni Ebel in ihrer Wohnung am Strausberger Platz um 1960 mindestens einmal.

„Hat das Volk drueben denn noch nicht eingesehen(,) was es gemacht hat(,) indem es den Barbaren 12 Jahren freien Lauf liess?“

Charlaque, Charlotte an Toni Ebel: Brief vom 24. Juni 1947 aus: Akte des Landesarchivs (C Rep. 118-01, Nr. A 14093).

(58)

„Nur eine Frage, Liebe Maltante, ich lernte hier neulich zwei deutsche Weiber kenne, welche derartig ueber das neue Deutschland schimpften, den neuen Revanchekrieg anriefen und Hitler und sein System als von Gott gewollt erklaerten. Sage Toni, denkt man so bei euch drueben? Ist das die Stimmung des Volkes? Die beiden Frauen erklaerten[,] die Nachrichten aus München erhalten zu haben, wo der Bruder lebt. Wenn dem der Fall ist, Toni, koennte ich als ‚Nichtarierin‘ natuerlich nie daran denken[,] je wieder ein Land zu betreten, welches solcher Gedanken faehig ist. […] Hat das Volk drueben denn noch nicht eingesehen[,] was es gemacht hat[,] indem es den Barbaren 12 Jahren freien Lauf liess? Bitte beantworte mir dies ausfuehrlich. Ich stehe politisch wieder da[,] wo wir [b]eide im Jahre 1933 standen. […] Alle sind wir gleich, es hat [k]einer das Recht[,] besser zu leben als sein Mitmensch. Kunst ist fuer die Masse, nicht fuer den Geldmenschen. Der Staat hat das Geld zu haben und fuer den Einzelnen zu sorgen, ob krank oder gesund, ob Kuenstler oder Arbeiter, das ist mein Credo.“

„Aber ich, Liebste, habe keinen Menschen(,) mit welchem ich ein Wort wechseln koennte, oder ueber Dinge sprechen(,) welche mir nahe liegen.“

Charlaque, Charlotte an Toni Ebel: Brief vom 18. Oktober 1946 aus: Akte des Landesarchivs (C Rep. 118-01, Nr. A 14093).

(59)

„Deine Karte voller Truebsal erhielt ich gestern. Darling, ich moechte Dir etwas sagen, aber bitte versteh mich recht. Trotz aller Not und allen Hungers, bist zu zehn mal gluecklicher als ich. Du hast Lieschen und Karl, kannst einmal zu Ella Mueller und anderen lieben Menschen herueber laufen und plauschen, kurz und gut, bist nicht alleine. Aber ich, Liebste, habe keinen Menschen[,] mit welchem ich ein Wort wechseln koennte, oder ueber Dinge sprechen[,] welche mir nahe liegen. Als ich den ersten Morgen hier im Hotel erwachte, mir [n]iemand „Guten Morgen“ wuenscht, war es um meine Nerven geschehen. […] Als wir landeten, musste ich erst einmal alles das durchmachen, was ich im Jahre 1932 in Berlin durchmachte. Aerztliche Untersuchung u.s.w. Dieses dauerte genau 2 Wochen. Dann wurde mir das Recht auf den Namen, Charlotte Curtiss Charlaque, zugesprochen.“

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Toni Ebel. Porträt von Fritz Dähn (1908–1980), 1954.
Graphit auf Papier
In Privatbesitz
Danielle Dähn, Berlin

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Toni Ebel zusammen mit ihrem Bruder Arthur Ebel, 1950er Jahre.
Fotografin: Marianne Schnitzlein
In Privatbesitz
Marianne Schnitzlein, Frankfurt/Oder
Toni Ebel zusammen mit ihrem Bruder Arthur Ebel im Garten, 1950er Jahre.
Fotografin: Marianne Schnitzlein
In Privatbesitz
Marianne Schnitzlein, Frankfurt/Oder

(62)

Auch Ende der 1950er Jahre malt Toni Ebel täglich noch drei bis vier Stunden. Sie arbeitet an eigenen Werken und kopiert im Auftrag von Kunden Klassiker der Malkunst. Eins ihrer bevorzugten Motive, an dem sie bisweilen verzweifelt, ist nach wie vor der aus dem Umfeld Rembrandts stammende Mann mit Goldhelm.

Toni Ebel stirbt am 9. Juni 1961 nach einer längeren schweren Krankheit in Berlin-Buch.

(63)

Todesanzeige Toni Ebel, 1961.
Zeitungsausschnitt
In Privatbesitz
Marianne Schnitzlein, Frankfurt/Oder